ROTKLEE XXXII – QUERGEDACHT QUERGEMACHT
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Wenn Sie nicht zu uns kommen können, kommen wir zu Ihnen.
Das ist die erste Ausstellung 2020 nach der Winterpause. Eröffnung sollte Karfreitag sein. Es kam anders. Wohl wissend, dass es keine Vernissage geben wird und vorerst auch keine Gäste in der Galerie, haben wir die Ausstellung eröffnet.
Das Querdenken führt bei Konfliktbewältigungen oder bei der Suche nach Innovationen oft zu Lösungen, die durch das „übliche“ Vertikaldenken nicht zu erreichen sind. Querdenker gelten zu oft noch als Exoten oder Außenseiter. In der Kunst spielt diese Denkmethode allerdings eine herausragende Rolle und der Künstler ist klar im Vorteil. Er genießt als Exot oder Außenseiter als Einziger eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz. Die quergedachten Resultate seiner Arbeit verlangen dem Betrachter beim Rezeptionsvorgang ein Denken ab, das ihn – lässt er sich darauf ein – oft zu verblüffenden Erkenntnissen führt. Da gibt es kein „richtig“ oder „falsch“. Im Suchen und dann Querdenken ist der Betrachter selbst zu einem kreativen Teil des Kunstwerks geworden. Vielleicht sogar der Wichtigste!
Die Ausstellung QUERGEDACHT QUERGEMACHT in der Galerie ATELIER ROTKLEE nimmt dieses Thema direkt auf. Walter G. Goes, Günther Haußmann und Frank Otto Sperlich ändern immer wieder ihr Konzept und erfinden sich neu. In den letzten Jahren waren es thematische Ausstellungen. Sie riefen befreundete und bekannte Künstler aus Mecklenburg/Vorpommern auf, sich mit vorgegebenen inhaltlichen Themen auseinanderzusetzen. „Damit haben wir meist gute Erfahrung gemacht“ sagt Frank Otto Sperlich, einer der drei Galeriebetreiber. „Aber manchmal wurde das Thema so frei interpretiert, dass es kaum noch erkennbar war. Nachvollziehbar, aber nicht im Sinne des Konzepts. Jetzt wollen die „Rotklee’s“ andere Wege gehen: Das Format bestimmt den Inhalt. „Wir waren gespannt, wie die Künstler das Querformat (nicht unter 1:2,5) bewältigen.“ So Günther Haußmann. „Auch für uns war diese formale Vorgabe eine Herausforderung“ sagt Walter G. Goes. (Frank Otto Sperlich)
Der Einladung von Walter G. Goes, Günther Haußmann und Frank Otto Sperlich sind gefolgt:
Klaus Böllhoff • Rainer Görß • TO Helbig • Horst Hussel • Karen Kunkel • Mario Kusel • Matthias Langer • Daniela Friedericke Lüers • Georg Meyer • Monika Ortmann • Monika Ringat
Trailer zur Ausstellung
In den klassischen Bildgattungen befinden sich meinem Eindruck nach Querformate in der Überzahl. Allein das Porträt scheint sich vor allem im Hochformat zu bewegen, Familien- und Gruppenbilder machen die Ausnahme. Anders verhält es sich bei Landschaften, hier ist das Querformat eindeutig führend. Auch Historienbilder, Heiligenviten, historische Begebenheiten und mythologische Stoffe wurden meist im Querformat konzipiert – sie sollten erzählen, belehren, weisen. Das Querformat scheint ein Erzähl-Format zu sein. Unsere Schrift- und Lesekultur folgt der Bewegung in die Breite und Bilder werden ganz ähnlich gelesen. Die Dynamik des Querformates – etwas lesen, abschreiten, sich um sich selber drehen, bis ein Panorama entsteht – sie ist uns sehr vertraut. (Agnes Heine)
Walter G. Goes
Das Spiegelobjekt „MALIK-COVID 19“ von Walter G. Goes überschreibt das Betrachtergesicht mit leuchtend-farbigen Buchstaben und dem, was heute unseren Alltag so umfassend beherrscht, dass wir vieles anderes Wichtiges, Schreckliches, Ungerechtes aber auch Schönes übersehen. Malik verweist in seiner semitischen Sprachwurzel MLK auf biblische (Gott-)Könige oder Gottheiten, es bezeichnet zugleich im arabischen Kulturraum einen Königstitel. So heißt ein neuer Herrscher Covid-19? Die Verehrung der kanaaitischen Gottheit Melek/Malik wurde vom jüdischen Schrifttum als Götzendienst betrachtet. Herrscher und Götzen tauchen auf, verschwinden wieder, werden abgelöst durch neue. Ohne Zweifel sind sie ernst zu nehmen. Entscheidend ist aber der hinterfragende Umgang mit ihnen und das ist Sache eines jeden Einzelnen, der sich hier im Spiegel sieht. (Agnes Heine)
Günther Haußmann
NARZISS
Objekt • Stahl
2020
unverkäuflich
„Selber staunt er sich an; unbewegt in einerlei Stellung haftet er (…) Alles bewundert er selbst, was er selbst der Bewunderung darbeut.“ Ovid beschreibt das Verhängnis des Narcissus, beim Trinken vom eigenen Spiegelbild so fasziniert und in den Bann gezogen, dass er darüber alles vergisst. Sich selbst aber erkennt er dabei nicht und verschmachtet in der Sehnsucht nach dem unerreichbaren Schönen. Es handelt sich also um klassisch-mythologischen Stoff. Eine der wenigen Skulpturen in der Ausstellung ist Günther Haußmanns Narziss: Ein meterlanger Stahlkörper ruht einerseits auf einem Sockel, sein anderes Ende lagert auf dem Boden, als berühre Narziss schon die spiegelnde Wasseroberfläche, bereit, in das übermäßig Verehrte einzutauchen, unterzugehen. Der Betrachter folgt dem Querformat mit dem Blick, die Arbeit dehnt sich aus, ändert sich mit Lichteinfall und Bewegung. Die Veränderlichkeit von Skulpturen, ihre Vielansichtigkeit ist etwas, das nicht nur betrachtet wird, sondern aktiv verfolgt werden kann. Die Dynamik ist dabei ganz körperlich Programm. (Agnes Heine)
Frank Otto Sperlich
Grenzenlos sind auch Panoramen, die zum Sujet der Landschaftsdarstellung gehören. Der erste Eindruck der beiden Landschaften von Frank Otto Sperlich ist neben intensiver Farbigkeit zunächst Wirrnis, bis sich aus Farbe und Linie die beiden Szenen entwickeln. Es formen sich Figuren, ein Bahnhof mit Stationsuhr, ein Stadtpanorama, Autos. Aufbruch, „Abreise“ und Ankunft am „Strand“. Hier die Stadt, dort Badende, Strandtücher und Segelschiffe. Voll ist es, aber fröhlich. Zwei Querformate voller Landschaft, Panoramen unserer aller Leben und Alltagsszenen, chaotisch zunächst, am Ende aber doch geordnet, wenn man genauer hinsieht und sich Zeit dafür nimmt. Ein Beispiel für die Aufgabe des Betrachters: zunächst überwältigt schauen, blicken, dann etwas entdecken, Abstand nehmen, genauer sehen; ein Spiel aus Nähe und bewusster Distanz, Wiederannäherung und schließlich der Weg über das Bild hinaus, immer wieder. So funktioniert Betrachten und Erkenntnis, anstrengend zwar, Betrachterarbeit, aber so wichtig für jeden von uns. (Agnes Heine)
Klaus Böllhoff
Klaus Böllhoff zeigt vier geometrisch dominierte Querformate, übereinander gehängt. Der erste Eindruck der beiden oberen Bilder ist der einer Landschaft mit Sonnenuntergang; der mit bunten Vierecken besetzte Vordergrund ist entweder eine bergige Landschaft oder eine Art mechanischer Vorhang, der sich im „Ablauf 2020 I-IV“ unaufhaltsam schließt. Unwillkürlich folgt die Suche nach der Fortsetzung: Wie öffnet er sich wieder, wo sind Anfang und Ende? Die Frage wird umso dringender, als die Bilder übereinander hängen – so ist der Ablauf noch viel kompakter zu verfolgen als bei einer Reihung nebeneinander. Üblicherweise würde man die Arbeiten nebeneinander erwarten, so wird unsere Sehgewohnheit nun unterbrochen. Wir stehen vor der Frage, welche Blickbewegung uns eher entspricht, waagerecht oder senkrecht. Außerdem ist zu entscheiden, ob man die Abfolge von oben nach unten verfolgt (wie es z.B. auf der Homepage der Galerie naturgemäß beim Scrollen geschieht) oder anders herum, wie es im Ausstellungstrailer gezeigt wird. Es kommt auf den Versuch an, was uns mehr entspricht und welche Eindrücke die Arbeit jeweils in uns hervorruft. (Agnes Heine)
Rainer Görß
Die Arbeiten von Rainer Görß wirken filigran, rhythmisch und beweglich. Sie erinnern im Gestus meist an Schriften oder Notationen von Musikstücken. Einige Rhythmen der Linienführung rufen Assoziationen von EKG-Aufzeichnungen oder den von Thermohydrographen im Museum aufgezeichneten Kurven wach. Immer dehnen sich die „Nanographen“ und Partikelströme über die Bildgrenzen hinaus aus und erweitern ihren Raum unsichtbar, sie ziehen dennoch nicht am Betrachter vorbei, sondern scheinen einen Moment für ihn innezuhalten, bevor sie weiterziehen. (Agnes Heine)
TO Helbig
Zuerst eine graue, lang ausgedehnte Linie, darauf lagernd ein großer Kreis, wie mit einem Keil fixiert gegen das Wegrollen. Dahinter dehnen sich zartere blaue Formen aus. Sie sind leichter, durchscheinender. Am unteren Rand des handgearbeiteten Papiers finden sich schließlich mehrere blaue Schiffe – sie sind auf dem hellen Untergrund isolierter als die restlichen Formen. Sie ziehen friedlich hintereinander entlang. Wie gefaltete Papierschiffe sehen sie aus, erinnern an eigene Schiffchen-Experimente. Tragen sie die „Heiße Ladung I-II“, so stellt sich die Frage, was als nächstes passieren wird. Vielleicht gerät das Ganze ins Kippen und alles geht unter, vielleicht aber ist das Papier auch viel stärker, als es auf den ersten Blick scheint. (Agnes Heine)
Horst Hussel
Die Radierungen von Horst Hussel bringen uns in Bewegung. Eine grün-gelblich bewachsene Hügellandschaft, strandähnlich, eine andere Landschaft, vielleicht mit einigen Kiefern bewachsen; beide erstrecken sich in ihrem Rahmen. Sie sind weit, das Format entspricht in etwa 1:12 und ist damit auf dem Weg zum umfassenden Panorama. Einen solchen Blick kann man normalerweise ohne Beweglichkeit fast gar nicht bekommen. Ein Panorama erfordert also Bewegung von uns, denn man kann es in seiner Gänze nur erfassen, wenn man sich in ihm bewegt, sich dreht und den eigenen Blick ausweitet. Eine Bewegung übrigens, die jeder Besucher einer Galerie in einer Ausstellung wenigstens einmal machen sollte, um das Ganze zu erfassen. Eine Bewegung, die uns immer gut zu Gesicht steht – beweglich bleiben, den eigenen Standpunkt nutzen, um den Blick zugleich auszuweiten. (Agnes Heine)
Karen Kunkel
Karen Kunkel macht neugierig, ob sich etwas ändert. Auf zwei Blättern ist ein Fisch, dem Hering nicht unähnlich, zu sehen. Unter dem Titel „Quinn und Quer“ schwimmt er in der oberen Hälfte des einen Blattes mal nach rechts, auf dem anderen im unteren Teil nach links. Unwillkürlich dachte ich an das dauernde Hin und Her der Aquarien-Fische in Monty Pythons „Der Sinn des Lebens“. Sie schwimmen und schwimmen, sagen sich Guten Tag, fragen nach Neuigkeiten, die es nicht gibt, bis sie entdecken, dass ihr Kollege Howard gerade serviert wird. Das Ganze endet mit der Frage nach dem Sinn, die nicht beantwortet werden kann. Bei Karen Kunkel finden sich winzigste Veränderungen in Schwüngen und Linien, auch der Fisch hat sich zum Glück verändert, sodass noch Hoffnung besteht. (Agnes Heine)
Mario Kusel
Es ist ein ewiges Hierhin-Dorthin! Das thematisiert Mario Kusel mit seinem Beitrag „In einem Boot“. Eine weite Wasserlandschaft, ein ferner Horizont, zwei engagierte, kraftvoll in den Riemen liegende Ruderer. Beim zweiten Blick wird das Problem deutlich: Die beiden schauen in unterschiedliche Richtung und rudern dementsprechend auf verschiedenem Kurs. So kommen sie in ihrer Querele niemals von der Stelle. Der Betrachter wiederum überblickt wissend das Problem und führt zuerst unwissend noch eine neue Ebene ein. Er sieht einen weiteren Horizont in der Ferne, den die beiden Ruderer ihrerseits so nicht sehen können. Mag der Betrachter sich im ersten Moment überlegen fühlen, so ist er doch auch nur ein Ruderer, sieht ferne Versprechungen und muss prüfen, wer noch in seinem Boot sitzt. Die Beischrift „Meinungsverschieden – Jedem seinen Horizont – Doch – In einem Boot“ macht das zusätzlich sehr deutlich. Kusels Appell für Freiheit, Toleranz und Augenmaß in Auseinandersetzungen ist alltäglich aktuell. Zwei Ruderer in verschiedener Richtung: In Kleinigkeiten fatal, im Großen verheerend. (Agnes Heine)
Matthias Langer
Man kann sich über vieles streiten, ganz besonders über Erinnerung. Was ist richtig, was stimmt nicht, kann man dies überhaupt wissen? Matthias Langer stellt mit seiner Arbeit „Mneme II“ auch diese Frage. Mehrfachbelichtungen eines Fotoalbums, die Seiten überlagern sich, werden undeutlich. Ganz so funktioniert auch unser Gedächtnis, dessen einzelne Erinnerungen sich gegenseitig überdecken und dabei notwendig auch verwischen. Die Verschleierung muss immer wieder neu erforscht werden, denn die Erinnerungen sind unklar, durchlässig und ein Stück weit irreführend. Die Teile des Ganzen, das zu einer Erinnerungs-Erzählung wird, bieten auch großes Potenzial, darin zu reisen. Dabei sollte man sich aber bewusst sein, dass sie nicht fix und absolut sind – nicht anders als unsere eigene, vermeintliche Wirklichkeit. (Agnes Heine)
Daniela Friederike Lüers
Ein Blick aus dem Bild, direkt in Richtung des Betrachters, stellt eine intensive Verbindung her. Der Jagdhornbläser schaut jeden von uns an, am Horn seines Nachbarn vorbei. Die anderen beiden Bläser blicken woanders hin, sofern sie nicht sogar die Augen geschlossen haben. Das (An-)blicken ist essentiell, ebenso der Gegenstand der Betrachtung, der erblickt wird. Der Blick des Bläsers wirft den Betrachter auf den eigenen Blick zurück. Dies wird umso bedeutsamer, als „Weidmanns Dank I“ in Kombination mit einem Akt kombiniert wird. Von der Figur sind vor allem Torso und Schenkel zu sehen, in geradezu klassischer Pose und mit einem Tuch kombiniert. Der Kopf, das Gesicht befinden sich außerhalb des Ausschnitts, die Figur blickt nicht zurück und der Betrachter ist mit seinem Blick alleine. Welche Blicke werden hier geworfen – genießend, voyeuristisch, wertschätzend, irritiert? (Agnes Heine)
Georg Meyer
Georg Meyers Arbeit zeigt eine irisierende, in sich gewundene Form auf schwarz. Es muss ein Material mit Stand sein, Filmmaterial vielleicht oder hauchdünne Metallfolie. Es war eng aufgerollt und wurde losgelassen, die Spannung treibt es in die Breite des Bildes bis dicht an die Grenzen des Formates. Raschelnd und knisternd hat es sich ausgebreitet, es könnte auch weitergehen, denn die Spannung ist noch im Material zu sehen. Sollte außer der irisierenden Farbschicht noch etwas anderes darauf sein, sehen wir es nicht. Falls es sich um einen Film handelt, ist dieser zwar wie im Labor abgewickelt, aber bisher nicht entwickelt. Die Bandbreite der Möglichkeiten ist zum aktuellen Zeitpunkt also noch vollkommen unbegrenzt. (Agnes Heine)
Monika Ortmann
Monika Ortmann inszeniert einen Mythos: Mit „Ariadnefaden“ verweist sie auf das Labyrinth des Minotaurus, aus dem der Held Theseus nur mit Hilfe der Königstochter Ariadne wieder herausfindet. Sie gibt ihm einen Faden mit, den er als Wegweiser hinaus nutzt. Auf blutroten Leinwänden schreibt sich der Faden wie eine Wunde oder Narbe ein, markiert einen Weg und endet in einem Wollknäuel auf dem Boden. Der Weg ist aber auch unterbrochen und nicht vollständig nachzuvollziehen, denn er führt über die Grenzen des Bildraumes hinaus. Insofern bleibt Ortmanns Labyrinth ein großes Stück weit unfassbar. Als Frage steht auch im Raum, wo es sich eigentlich befindet: Auf den Leinwänden, die wir betrachten oder auf der anderen Seite – sind wir am Ende die Bewohner des Labyrinthes? (Agnes Heine)
Monika Ringat
Monika Ringats „Kapitalismusvirus“ mit an Kacheln oder bedrucktes Textil erinnernden Ornamenten, setzen sich zumindest theoretisch endlos in alle Richtungen hin fort. Grünlich-bläuliche Töne dominieren, doch eines der Elemente ist leuchtend rot, eventuell der Infektionsherd des Virus. Die angrenzende Fläche ist nicht ornamental bestimmt wie die anderen, sondern eine Ansammlung von Wischern, diagonal stürzend und eine mögliche prekäre Stelle, an der der Kapitalismusvirus überspringt und die Kontrolle verloren wird. (Agnes Heine)